Mir wurde einmal die Frage gestellt, wieso ich denke, dass mein Sohn Autist ist. Ich mag Fragen, gute ganz besonders. Nun hätte ich kurz antworten können, dass die Psychologin diese Vermutung geäußert hat und alle Anzeichen darauf hindeuten. Aber ich habe länger geantwortet. Hier einige Auszüge aus meiner Antwort:

 

Folgendes habe ich neulich gelesen: „Vertrauen ist – im Gegensatz zu Glauben – eine Erfahrung. Es resultiert nicht aus dem Denken, denn alles, was du denkst, ist erschütterbar … So verschieden sich unsere Anliegen auf den ersten Anblick vielleicht präsentieren – tatsächlich suchen wir alle dasselbe: existentielles Vertrauen.“

Ich denke, da hat Veit Lindau recht. Was wir alle suchen und haben möchten, ist Urvertrauen. Und wir konstruieren uns Methoden, Bilder, Vorstellungen und Schubladen, um in dieser wilden Welt zurechtzukommen, um vermeintliche Ordnung im vermeintlichen Chaos herzustellen, weil wir dieses Urvertrauen nicht fühlen, wir den Kontakt zum Leben, zur Natur, zu unserer Quelle verloren haben. Zumindest sehr viele von uns.

Ich denke gern quer. Und ich stelle gern in Frage. So auch die Konzepte, die wir von Gesundheit und Krankheit, Störung und Normalverhalten haben. Und ich schaue gern hinter die Kulissen, unter die Oberfläche und frage: Warum? Warum ist das so und nicht anders? Kann es anders sein? Und was ist der Sinn dahinter?

Die Psychologin, die die Kommune voriges Jahr mit ins Boot geholt hat, hat die Vermutung geäußert, dass mein Sohn Autist ist. Und als sie begann, über Autismus zu sprechen, löste sich tief in mir etwas und ich wusste: Ja, genau, das ist es. Das passt. Das war bisher mein Blind Spot, mein blinder Fleck gewesen, das hatte ich nicht gesehen, obwohl es direkt vor mir gewesen war. Vieles ergab auf einmal Sinn, und gleichzeitig taten sich tausend neue Fragen auf. So ist das mit Konzepten – sie helfen, aber auch nicht lang. Sie schicken dich auf einen Weg, und wenn du weitergehst, stellst du irgendwann fest, dass hinter dem Konzept etwas (ganz) anderes steckt.

So ging es auch mir mit meiner Krebserkrankung.

Ich möchte die Konzepte nicht über Bord werfen, weil sie wirklich helfen können und eine Orientierung bieten. Aber viele Menschen bleiben dort stehen, wo sie das Konzept hingebracht hat, und gehen nicht weiter. Wie Schule: du gehst jahrelang zur Schule um zu lernen, und dann soll Schluss sein mit Lernen. Was ist das denn?! Eigentlich fängt doch dann das Lernen erst richtig an. Aber nein, die Menschen bleiben stehen und meinen, sie wüssten ja nun alles oder zumindest so viel, dass es reicht.

Zurück zum Autismus: Ja, mein Sohn tickt anders, hat er schon immer, war nur kaum aufgefallen. Im deutschen Kindergarten haben sie sein Nicht-Sprechen auf Schüchternheit zurückgeführt, im dänischen dann auf die Sprachbarriere, zwischendrin war er eh fast nur mit mir zusammen aufgrund der Corona-Schließungen. Ich hatte kaum Vergleiche zu anderen Kindern und dachte bei den meisten Dingen, das ist so bei Kindern. An meine Kindheit kann ich mich nicht mehr erinnern. Und seine Wutausbrüche und kompletten Ausraster habe ich auf mich geschoben – meine Schuld. Jetzt weiß ich, dass er da komplett überlastet war, nicht mehr ein und aus wusste, einfach nur STOPP meinte mit Eindrücken. Es gibt viele andere Beispiele, die passen. 

Nichtsdestotrotz habe ich mit Autismus bzw. ASS (Autismus-Spektrum-Störung) meine Probleme. Wieder so ein Konzept, das ich gern hinterfragen möchte. Nicht nur wissenschaftlich analytisch, sondern auch evolutionstechnisch. Warum hat das die Natur so eingerichtet? Das Gleiche ja bei Hochsensibilität. Allgemein bin ich der Meinung, dass alles Anders-Sein seinen (guten) Grund hat. Oft sehen wir den Grund nur (noch) nicht. Das klingt vielleicht krass, aber ich denke, es ist es wert, darüber nachzudenken.

Bei Autisten ähnelt kein Gehirn dem anderen. Und wir nennen dennoch alle Autisten?

ASS ist keine Krankheit. Aber ich muss mein Kind, das Probleme mit Fremden hat, zu Ärzten schicken, um eine Diagnose zu erhalten. Warum denn das?

Hinzukommt, dass Diagnosen auch falsch gestellt werden können – Fehldiagnosen. Es gibt ADHS-Diagnosen, die nicht stimmen, oft stecken Traumata hinter dem „auffälligen“ Verhalten. Die sog. Symptome ähneln sich. Das Gleiche gilt für Hochsensitivität. Es gibt Traumafolgen, die Menschen hochsensibel werden lassen. Ein wichtiger Unterschied, v.a. wenn es um Therapie und Hilfe geht. Waren die hochsensitiven Eigenschaften schon von Geburt an da, oder sind sie erst später gekommen (also bspw. durch Trauma)? Oftmals ist hier eine Unterscheidung gar nicht möglich, weil es auch Geburtstraumata gibt.

Ich denke, es gibt noch viel zu lernen …