Für diese Frage ist zum einen der Ausgangspunkt wichtig:
- Bin ich Mutter oder Vater bzw. Betreuungsperson eines Autisten?
- Bin ich selbst Autist?
- Habe ich Autisten in meinem Umfeld, die ich unterstützen möchte?
Zum anderen gibt es für mich Grundlagen, die auf alle Fälle zutreffen, m. E. auf alle (menschlichen) Beziehungen, ob zu mir selbst oder zu anderen:
- Aufrichtiges Interesse
- Kennenlernen
- Akzeptanz
- Verständnis
- Aufmerksamkeit
- Zuneigung
- Zeit
Interesse ist das eine, aufrichtiges Interesse etwas anderes. Ich kann (kurzzeitig) an etwas oder jemandem interessiert sein, bspw. weil ich Langeweile habe. Aufrichtiges Interesse bedeutet für mich dagegen, dass das Interesse tiefgründig und längerfristig ist.
Damit verbunden das Interesse, jemanden wirklich kennenzulernen. „Kennst du einen Autisten, dann kennst du einen.“ Wir alle, ob neurotypisch oder neurodivers oder was auch immer, sind eigen. Und unsere Eigenheiten wollen gesehen und manchmal sogar erst einmal entdeckt werden.
„Du kannst nur etwas verändern, wenn du aufhörst, dagegen anzukämpfen.“ Autismus ist keine Krankheit. Für mich ist es eine Lebensweise – eine Möglichkeit, die Welt wahrzunehmen. Dennoch wird Autismus als „Störung“ bezeichnet, wohl (auch) weil es im Vergleich zu anderen und in unseren Systemen, die nicht für Autisten geschaffen sind, zu Störungen kommt – beim Menschen selbst und im System, wenn beide aufeinandertreffen und der Mensch im System nicht „funktioniert“. Nicht nur aus diesem Grund haben viele Menschen Probleme damit, sich selbst und/oder auch den anderen zu akzeptieren, anzuerkennen, wie man ist – anzunehmen. Akzeptanz ist aber die Grundlage von allem. Wenn ich etwas akzeptiere und anerkenne, dann kann ich im nächsten Schritt überlegen, was es für Möglichkeiten gibt, das Leben für mich und den/die anderen (noch) einfacher, entspannter und schöner zu gestalten.
Dabei ist nach meiner Erfahrung Verständnis der hilfreichste Weg. Das gilt sowohl für mein Leben als auch für das meines Sohnes. Wenn ich verständnisvoll auf Ausraster oder andere Stimmungen meines Sohnes reagiere, anstatt mich darüber zu ärgern, dass das nun wieder in einer denkbar ungünstigen Situation, zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt passiert, dann geht es mir weitaus besser, und ich kann meinem Sohn besser helfen, schneller aus dem Tief wieder rauszukommen. Wenn ich aufmerksam genug bin, kann ich die Auslöser für mögliche Ausraster vielleicht sogar rechtzeitig identifizieren, und es muss gar nicht so weit kommen.
Aufmerksamkeit ist eine Kraft, die nach meiner Meinung weit unterschätzt wird. Viele merken gar nicht, dass wir oft nicht (mehr) HerrIn über unsere Aufmerksamkeit sind, dass sie uns permanent geklaut wird, mit unserem Zutun. Wir sitzen an der Bushaltestelle und schauen auf unsere Telefone, anstatt der schönen Frau schräg gegenüber die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdient hätte und die uns weit mehr verzücken würde als die neusten YouTube Shorts. Wir sitzen am Essenstisch mit unserer Familie und lesen Zeitung, anstatt den Erzählungen unserer Kinder zu lauschen, die uns Vorzeichen auf Kommendes geben oder Hinweise auf Dinge, mit denen die Kinder sich schwertun. Wir lieben es, uns in größeren Gruppen zu treffen – das spart bspw. Zeit. Dabei entgeht uns allerdings, dass die meisten Menschen Masken tragen, die sie nur ablegen, wenn wir sie in einem geschützten Rahmen treffen (bspw. in einem Vier-Augen-Gespräch) – nur dann zeigen sie, wenn überhaupt, ihr Innerstes, ihre wahren Wünsche und Vorstellungen. Wenn ich mich wirklich auf etwas oder jemanden mit meiner vollen und ungeteilten Aufmerksamkeit einlasse, dann entsteht ein magisches Feld, dass sehr heilend sein kann.
Zuneigung (Liebe) ist wie Aufmerksamkeit eine weitere heilende Kraft. Meines Erachtens DIE mächtigste unter allen, weil sie alles Vorangegangene einschließt, wenn sie ehrlich und aufrichtig ist.
Und Zeit, das Kostbarste und eigentlich Einzige, was wir in diesem Leben besitzen und womit wir so verschwenderisch umgehen, ist essentiell, denn gut Ding will Weile haben. Und für all das oben Genannte brauche ich vor allem eins – Zeit.
Hier noch einige praktische Ansätze:
- Rücksicht nehmen und sich in Verständnis üben (bspw. sich die Frage stellen: Wie ist das, wenn man so viel mehr wahrnimmt als alle anderen, keinen Filter im Kopf hat, der vermeintlich Wichtiges von vermeintlich Unwichtigem unterscheidet?)
- eigene Muster erkennen und NICHT auf den Gegenüber anwenden
- Ruhezonen und Ruhezeiten schaffen und pflegen (Entspannung)
- ausreichend Zeit zum Verdauen der aufgenommenen Informationen und Eindrücke lassen (bspw. durch einen reduzierten Stundenplan in der Schule, verkürzte Arbeitszeiten u.a.)
- Energieampel (Was kostet viel Energie? Was gibt Energie? Was spart Energie?)
- Routinen und Rituale (Gewohnheiten)
- körperliche Bedürfnisse achten und beachten
- Wetterfühligkeit (an)erkennen
- gesundes Essen
- gesunder und ausreichend Schlaf
- Bewegung
- wenig Chemie, mehr Naturstoffe und Naturmaterialen (im Essen, in Reinigungsmitteln, in Pflegeprodukten, in Anziehsachen etc.)
- keine starken Gerüche, kein Parfüm (Besucher bitten, auf Duftstoffe zu verzichten)
- Verbundenheit zur Natur (wieder-/entdecken)
- Fokus halten und Fokus setzen
- Klarheit und eindeutige Ansprache
- Hilfe zur Selbsthilfe
- Möglichkeiten aufzeigen, sich in unseren Systemen (in den großen wie den kleinen), die nicht für Autisten gemacht sind, zurechtzufinden, und bei Bedarf neue/weitere Möglichkeiten oder gar Systeme schaffen, wo Andersartigkeit nicht nur sein darf, sondern gedeihen kann.
Und noch ein paar konkrete Beispiele aus unserem Alltag:
- Seit mein Sohn auf der Welt ist, gehe ich mit ihm täglich raus in die Natur. Wir haben einen Hund, so dass wir auch, als wir noch in der Stadt wohnten, immer entweder im Park, im Wald oder am See unterwegs waren – nach dem Kindergarten/der Schule sowie am Wochenende.
- Zu Hause läuft bei uns nie Radio oder TV oder Ähnliches, auch wenn ich es früher gewohnt war, Hintergrundmusik anzuschalten, sobald ich zu Hause war, weil mir die Stille Angst gemacht hat. Mittlerweile bin ich sehr froh, wenn es still ist. Vor allem, weil ich nun mitten in der Natur wohne und es eigentlich nie richtig ruhig ist. Ich höre Vögel, das Rauschen der Blätter, die Mäuse im Haus.
- Wir benutzen ökologische Handseife, Waschmittel, etc. ohne Duft- und Parfümstoffe.
- Da mein Sohn gern nur die gleichen Anziehsachen trägt, habe ich ihm die Shirts und Hosen, die er mag, mehrfach gekauft, so dass er dennoch täglich wechseln kann. D.h. im Großen und Ganzen läuft er immer im gleichen Outfit herum.
- Mein Sohn hat einen reduzierten Stundenplan. Er hat weniger Unterrichtsstunden und auch mehr Pausen als die anderen Schüler seiner Klasse. Ich weiß, dass es sehr schwierig sein kann, in der Schule „auszuscheren“, aber mein Rat an alle Eltern ist: Wenn ihr merkt, dass euer Kind Schwierigkeiten in der Schule hat, dann sucht den Dialog mit LehrerIn und Schulleitung und wenn nötig mit der Stadt/Kommune. Es gibt weit mehr Möglichkeiten, einem Kind den Schulalltag zu erleichtern, als man gemeinhin annimmt. Und glaubt mir – auch wenn der Weg energieraubend und nervenaufreibend sein kann, er lohnt sich. Schon allein für das Wohl eures Kindes. Aber auch für das anderer Kinder. Und für euer eigenes.
- Mein Sohn hat sein Lieblingskuscheltier mit in der Schule. Überhaupt sind ihm seine Kuscheltiere sehr wichtig, und das respektiere ich. Sie sind überall mit, wenn er das wünscht, und sie haben einen festen Platz in unserem Haus und in unserer Familie.
- In der Schule darf er Bonbons essen, wenn es ihm hilft, über schlechte Gerüche hinwegzukommen. Er darf sich auf den Gang setzen und dort Aufgaben machen, wenn es in der Klasse zu laut ist oder sie einen Film schauen. Zurzeit sitze ich mit in der Schule, auf dem Gang, und arbeite von dort aus, um ihm einen Ruhepol zu schaffen. Wenn er nicht mehr kann, braucht er eigentlich absolute Ruhe und muss für sich sein. Da sich das in der Schule in seinem Alter nicht umsetzen lässt, bin ich momentan seine Ruhe-Oase. Er setzt sich dann neben mich, um abzuschalten. Manchmal reichen zehn Minuten mit Nichtstun und Nicht-Angesprochen-Werden, damit der den Rest des Schultages durchhält. Wir sind dabei, ihn andere Ruheoasen zu verschaffen, so dass er künftig auch ohne mich klarkommen kann.
- Wir haben Routinen und Rituale, die unseren Tag strukturieren – egal ob Ferien oder Schulalltag oder Wochenende. Wir sind jeden Tag etwa zur selben Zeit wach, essen zu den gleichen Zeiten, haben gleiche Reihenfolgen im Ablauf. Ich prüfe ab und an unsere Routinen und justiere nach, wenn nötig, aber etwaige Änderungen sind immer begründet und für meinen Sohn nachvollziehbar.
- Ich achte darauf, dass mein Sohn viel trinkt und gesund isst. D.h. er hat immer eine Trinkflasche dabei und ich erinnere ihn regelmäßig ans Trinken. Es gibt viel frisches Obst und Gemüse über den Tag verteilt, und ich versuche das Essen zu kochen, was er mag. Bei uns heißt das „Trennkost“; denn mein Sohn isst am liebsten alles gesondert – wenn nötig auf verschiedene Teller und Schüsseln verteilt. Da kann es dann auch mal Nudeln, Kartoffeln, und Suppe gleichzeitig geben. Er isst tagsüber auch Süßigkeiten und Chips – das bringt ihm Energie. Wir haben dazu Absprachen, so dass diese Sachen bei uns in der Küche frei zugänglich herumstehen. Er hält sich an die Absprachen, oder er fragt, ob er auch außer der Reihe naschen darf.
- Da mein Sohn viel Bewegung braucht, darf er auch im Haus Fußball spielen. Wir habend dafür Platz geschaffen, so dass er eine kleine schmale Bahn hat, an deren Ende ein kleines Tor steht. Er hat weiche Bälle, die keinen Schaden anrichten, wenn sie mal was anderes als das Tor treffen. Wir spielen im Winter auch Tischtennis und Federball etc. im Haus.
- Ich habe erkannt, dass mein Sohn sehr wetterfühlig ist und dass er, was m.E. vollkommen natürlich ist, im Winter viel weniger Energiereserven zur Verfügung hat als im Sommer. Wenn bei Schnee fällt, fällt mein Sohn zur Ruh wie draußen die Natur.
- Er hat gelernt, seinen Energie-Level auszuloten (wie viel Energie habe ich noch zurück? Was wird mich die kommende Aktion an Energie kosten? etc.) Und wir versuchen herauszufinden, was ihm Energie raubt und was ihm Energie gibt, um das entsprechend auszubalancieren.
- Ich versuche, meine Baustellen zu erkennen, und meine Probleme nicht auf ihn zu übertragen (daher ist mir das Thema Trauma auch so wichtig).
- Da vieles von den o.a. Themen Zeit kostet, ist unser Terminkalender meist leer, nur einmal pro Woche Fußballtraining und ggf. einmal im Monat Fußballspiel am Wochenende. Ich für mich habe außer den absolut nötigen Terminen und Arbeit keine Verabredungen, wenn mein Sohn bei mir ist. Die lege ich, wenn möglich, in die Zeit, wenn er bei seinem Vater ist. Das mag vielleicht merkwürdig klingen, aber mir geht es gut damit. Diese „Entschlackung“ des Alltags ist überaus wohltuend.
Florian Malicke hat auf LinkedIn einen Beitrag gepostet mit hilfreichen Hinweisen aus seiner Erfahrung: 10 Dinge, die ich meinem jüngeren autistischen Ich gern mit auf den Weg gegeben hätte.